Eine psychomagische Vision des brasilianischen Karnevals

Alyne Emanuella Silva & Luiz Gabriel Lopes02-20-20243 min. Lesedauer

Ein interdimensionales Portal, eine zeremonielle Liturgie, ein gemeinschaftlicher Rauschzustand? Viel mehr als eine protokollarische Feier des katholischen Kalenders ist der Karneval in Brasilien ein äusserst komplexes ästhetisches und politisches Geflecht, in dem die Gesellschaft ihre Widersprüche, Schmerzen und Schönheiten feiert und tanzt. Dies basierend auf einem sozialen – und poetischen – Pakt, der sich entlang der Geschichte Brasiliens wie als unvermeidlich entpuppte und heute als eines der der Hauptsymbole des brasilianischen Geistes gilt.

Es ist schwierig einer Person, die den Karneval in Brasilien noch nie erlebt hat, diese belebende Kraft zu erklären, die zu Beginn jedes neuen Jahres eine Art Ritual der Erneuerung kennzeichnet: Es sind vier heilige Tage, die von einer traumversunkenen Atmosphäre durchdrungen sind, in der nichts verboten und alles erlaubt ist. Die Trommeln erobern den öffentlichen Raum im Sturm und stellen über die von ihren Ahnen überlieferten Grammatiken und Alphabeten die Verbindung zu den Geistern der Strasse wieder her. Die menschlichen Körper, sich in Aufruhr befindend und halbnackt, tanzen, schwitzen, lachen und weinen, in einer Gefühlsintensität voller Libido und Lebensdrang.Der Karneval mischt und ordnet alles neu aus dem Chaos heraus – wie ein grosser, kreativer Mixer, der die Entstehung neuer Visionen und neuer Perspektiven katalysiert. Nach Versuchen, dieses bunte Fest im Verlauf der Geschichte zu elitisieren, ist es immer wieder wichtig, klar darzulegen, dass der Karneval ein Kind der Strasse ist. Es ist ein Fest, an dem die Stimme der Arbeiterschaft viel stärker hallt als diejenige der Chefetage. Es ist eine populäre Kundgebung, die sich von der Rebellion des Widerstands nährt. «Das Fest und der Kampf sind seit jeher Geschwister», sagte schon der brasilianische Gelehrte Luiz Antonio Simas.Aber es gibt natürlich auch diejenigen, die die Nase rümpfen und sagen, dass der Karneval etwas für unterbeschäftigte Leute sei. Wer dies behauptet, hat das Fest schlicht nicht verstanden. Denn nebst der gigantischen wirtschaftlichen Bedeutung, die der Karneval inzwischen erreicht hat, ist dieser auch – und vor allem – ein kollektives, psychomagisches Werk, eine grosse, synkretistische Zauberei, etwas typisch Brasilianisches. Er ist wie ein lyrischer Riss in Zeit und Raum, in dem die Traumata unserer kolonialen Vergangenheit – der Sklaverei und der sozialen Ungleichstellung – eine Chance erhalten, in Harmonie zu treten, wenn auch nur für kurze Zeit.Denn ja: Der Karneval ist wie ein Wirbelwind geladen mit Emotionen. Wie ein Kreis, in dem unsere Vorfahren für eine Weile zurückbeschworen werden und dessen Handlungen in einer sehr klugen Verflechtung zwischen dem Heiligen und Profanen stattfinden. Es ist zugleich eine spirituelle Feier und eine gefeierte Spiritualität. Wie eine Art Kulturmedizin, die während jahrhundertlanger kolonialer Unterdrückung dekantiert wurde und als Ergebnis fortschrittliche Technologien für ein gutes Leben hervorgebracht hat. Der Karneval ist eine Weisheit, die es den Menschen ermöglicht, mit der tragischen Dimension des Lebens zu tanzen und diese durch das Wunder der Freude zu überwinden.Der brasilianische Musiker Caetano Veloso singt: «Der Samba ist der Vater des Vergnügens, der Sohn des Schmerzes und die grosse, verwandelnde Kraft.» Wie der Samba bewegt sich der Karneval auf genau diesem schmalen Grat. Man sollte ihn als ein Instrument betrachten, hervorgegangen aus dem tiefgreifenden Wissen unserer Vorfahren, als ein wesentliches immaterielles Erbe für die menschliche Erfahrung auf unserem Planeten. Wie eine Copyleft-Technologie, von denen Brasilien hofft, dass sie auch dazu dienen kann, andere Gesellschaften in anderen Ländern von ihrer ebenfalls schwierigen Vergangenheit zu heilen.Text: Alyne Emanuella Silva und Luiz Gabriel Lopes
Übersetzung: Daniel Vizentini
Der brasilianische Kulturverein Adalu glaubt an die Stärke und den Wert des brasilianischen Karnevals als Weg der Verzauberung und für den Wiederaufbau eines kollektiven Sinns des Lebens.
In diesem Jahr veranstaltet die Gruppe die vierte Ausgabe von «Tropikaos»: Am 24. Februar ab 20 Uhr im Moods, mit mehreren musikalischen, tänzerischen und visuellen Darbietungen.

Adalu Carneval im Moods


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