Stefan Rusconi: Schritt für Schritt

Christof Thurnherr10-08-20257 min. Lesedauer

Als Erstes waren auf der Leinwand seine Hände zu sehen, nun steht Stefan Rusconi wieder auf der Bühne. Nach langer, tiefer Krise wagt sich der Pianist schrittweise zurück und sucht dabei eine neue, erstmals ehrliche Beziehung zu sich selbst.

Es ist ein tiefer Blick in sein Innerstes, den der Pianist auf seiner neuen Platte «Solace» gewährt. Und er ist vielfältig: «Falling» beispielsweise baut auf einem greifbaren Muster, über das Rusconi mit der Melodie eine fast schon konkret anmutende Geschichte erzählt. «Floating» klingt modern, erinnert an klassische Musik des 20. Jahrhunderts. «Resting» wiederum hat eine deutliche Struktur, hört sich an wie ein versöhnlicher Rückblick auf Vergangenes. So unterschiedlich die einzelnen Stücke sind, ihnen allen ist gemein, dass sie von einem Musiker kommen, der in sich hinein-, der sich selbst zuhört.
Rusconi ist ein Meister darin, Stimmungen, Emotionen und Farben aufzunehmen und in seine Musik einfliessen zu lassen. Und so vielfältig die Stücke auf «Solace» sind, aus ihnen allen klingt eine Bestimmtheit, ein Wille vorwärtszukommen. Dieses Gefühl erhält man auch im persönlichen Gespräch mit dem Pianisten. Wir treffen uns Ende Mai an einem Morgen in der Brasserie im Zürcher Hauptbahnhof. Rusconi ist auf der Durchreise. Seit bald 20 Jahren lebt er in Berlin, hat den Bezug zu seiner Heimat aber nie verloren. Hier ist seine Familie, seine Mutter und sein Bruder, und auch sein Engagement in der Kulturstiftung Árvore führt ihn regelmässig in die Schweiz. Gerade diese Beschäftigung war ein wichtiges Puzzleteil, um am Leben und mit der Musikszene verbunden zu bleiben, wie er berichtet.Denn das Musikmachen war für den Pianisten lange Zeit unmöglich. «Die letzten Jahre waren für mich persönlich eine ganz düstere Zeit. Es ging mir sehr schlecht und ich kämpfe auch heute noch mit den Folgen dieser schweren Depression. Erst allmählich komme ich an einen Punkt, an dem ich darüber reden kann.»Erste Versuche unternahm er vergangenen Herbst: Im Zusammenhang mit der Ankündigung des Films «Köln 75» über das berühmte Konzert Keith Jarretts tastete sich auch Rusconi erstmals wieder an die Öffentlichkeit heran, es erschien ein einfühlsames Portrait in der Neuen Zürcher Zeitung. Auch das im vergangenen Herbst erschienene Solo-Album sei der Versuch einer neuen Annäherung. «Das alles waren Schritte zurück an die Oberfläche», blickt der Pianist zurück. «Heute bin ich schon wieder an einem anderen Ort.»Ausgelöst wurde Rusconis Krise vor nunmehr zehn Jahren. Während einer Tour fand er seinen Bandkollegen leblos in dessen Hotelzimmer, verständlicherweise ein riesiger Schock. «Das hat mich aus der Bahn geworfen, natürlich.» Weniger absehbar war, welchen Prozess dieses schlimme Erlebnis auslösen und welche langfristigen Konsequenzen es für das Leben des Musikers haben würde. «Ich stand eigentlich mitten im Leben, hatte Verpflichtungen und musste vieles weiter- und fertigmachen.» So funktionierte er noch ein halbes Jahr weiter, spürte aber zunehmend, dass etwas nicht stimmte – bis zum totalen Zusammenbruch. Das Erlebnis hatte etwas ausgelöst, es kamen Erinnerungen aus der Kindheit des damals 36-Jährigen zum Vorschein, die sich nun nicht mehr länger verdrängen liessen. «Ich wurde total aus der Bahn geworfen, brach zusammen. Ich konnte überhaupt nicht mehr Musik machen, leben. In den noch laufenden Projekten sass ich nur noch da – unter grössten, schwer auszuhaltenden inneren Schmerzen und Ängsten – und war kaum in der Lage, dabeizubleiben und meinen Part beizutragen.»Er hat heute das Bedürfnis, das Kind beim Namen zu nennen: Bei diesem verschütteten Teil seiner Biographie gehe es um sexualisierte Gewalt, die ihm von ausserhalb seiner Familie angetan worden sei. Ein schwieriges Thema, auf das es als Gesprächspartner kaum eine angemessene und schon gar keine richtige Reaktion gibt. Aber er müsse in ausgewählten, sicheren Momenten darüber sprechen, betont Rusconi. «Ich muss mich mit anderen Menschen darüber austauschen. Denn seit es mir langsam wieder besser geht, habe ich erfahren, was es mir bringt, auf einer Metaebene mein Innerstes mit anderen zu teilen, was es mir bedeutet, ehrlich zu sein.» Das bringe vielleicht nur ihm selber etwas. Aber mehr wolle er momentan nicht. «Ich muss mich selber ganz neu kennenlernen», erzählt er. «Und der Moment des Erzählens hilft mir dabei.»Dass der Weg so lang ist, liegt gerade auch daran, dass es sehr schwierig ist, dieses Thema in unserer Gesellschaft anzusprechen. Rusconi erzählt von der Behütetheit seiner Kindheit, von der liebevollen Umgebung seiner Familie. Er spricht von der konstruktiven Gesinnung und den Werten, die ihm als Kind mitgegeben wurden und die er auch heute als Erwachsener noch als richtig empfinde. «Mein Vater war Staatsanwalt. Ich bekam mit, dass es eine Moral und ein ethisch kor-rektes Verhalten gibt, dass wir in einer Gemeinschaft leben und diese etwas Wertvolles ist. Es gibt darin Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen. Und dann passiert etwas komplett ausserhalb dieses Schemas. Etwas Grenzenloses, zutiefst Beschämendes und Gewaltvolles.»Über den Tod eines Freundes zu sprechen, sei noch vergleichsweise einfach gewesen; vom Thema sexualisierte Gewalt hingegen wollte niemand etwas hören. Es ist bekannt, dass traumatisierte Personen nicht selten sehr effektive Verdrängungsmechanismen entwickeln, vielleicht als Reaktion auf die Ohnmacht, die ihnen begegnet. «Das Thema Missbrauch ist zudem sehr eng verknüpft mit emotionaler Manipulation, mit Gewalt – psychisch, physisch, systemisch. Es zerbricht die Persönlichkeit: Sie ist dann wie ein Spiegel, der in tausend Stücken daliegt und man versucht, in einzelnen Scherben weiterzuleben – und man vergisst und verdrängt, dass alle Teile zusammen eigentlich ein Ganzes sein sollten.»Der Weg aus der Krise ist weit und beschwerlich und auch für Rusconi noch lange nicht abgeschlossen. Es brodle noch immer in ihm, jeden Tag, die ganze Zeit. Aber er habe – inzwischen – einzelne Ventile gefunden, an die er sich langsam heranwage. Der Schritt zurück an die Tasten und das Album «Solace» zum Beispiel.Dass er sich überhaupt wieder an das Klavier in seiner Berliner Wohnung setzte, hat mit dem Film «Köln 75» zu tun, dessen Geschichte die Entstehung des Köln Konzerts von Keith Jarrett aus der Sicht der Organisatorin Vera Brandes erzählt. «Der Produzent Sol Bondy ist ein Freund von mir. Einmal beim Kaffee meinte er, dass er meine Hände gerne für die Nahaufnahmen in den Piano-Szenen hätte, machte Fotos davon und der Regisseur Ido Fluk war begeistert.» Zuerst wollte Rusconi nicht, probierte es dann aber doch und komponierte am Ende auch die Musik für die Live-Szenen im Film. Natürlich spielt die Musik Keith Jarretts auch im Leben des Musikers Rusconi eine wichtige Rolle. «Ich war etwa zwölf, als ich alleine an ein Konzert von ihm im Zürcher Opernhaus ging. Ich war begeis-tert und bin es auch lange geblieben.» Wie viele entwickelte sich später auch Rusconi weiter. Während seines Studiums interessierte er sich eher für die New-Yorker-Downtownszene, Musiker wie Mehldau, Moran, Iverson und Rosenwinkel. «Die erneute Be-schäftigung mit Jarrett hat mir viel gebracht, vor allem auch, dass ich so nicht spielen und klingen möchte.»Die Arbeit am Album erforderte sehr viel Mut: Nicht nur ist es Rusconis erste Solo-Veröffentlichung, sondern auch ein musikalischer Neuanfang, den er mithilfe von Tobias Preisig an seiner Seite beschreiten konnte. Auch wenn die Stücke von aussen nicht diesen Eindruck machen, so fühlten sie sich für ihn doch an wie einen zaghafter Versuch, erzählt er. «Es ist intime Musik, aufnahmetechnisch sehr nah und leise aufgenommen, was man den Stücken auch anhört. Die Vielfalt kommt daher, dass ich in meiner Musik gerne in Stimmungen hineingehe: Ich setze mir einen Rahmen, zum Beispiel mit einem Thema oder einem Bild oder einem Element – oft ganz archaisch und elementar – wie Feuer oder Wasser und verbinde diesen Rahmen mit Emotionen. Und ich hole mir eine verbündete Person zu dem Thema beziehungsweise Setting: meinen Vater, eine Freundin, eine Person aus einem Film oder Buch, die mich inspiriert, und stelle sie hinter mir auf. Und in diesem Rahmen improvisiere ich. Dabei versuche ich, ganz tief in mich hineinzu gehen, und versuche, mich obsolet zu machen. Musik zu machen, bedeutet für mich, eine Umgebung zu schaffen und dann zu schauen, wohin sie mich trägt, was sie mit mir macht.»Der Weg zurück ins Leben ist noch nicht bis zum Ende beschritten. Aber langsam komme wieder die Lust aufzutreten und so ist Rusconi diesen Sommer mit seinem Solo-Programm an einigen Festivals in der Schweiz und Europa zu hören. Aber es sei nach wie vor schwierig, mit seinem lange verschollenen Ich eine neue Beziehung aufzubauen. «Es ist schon wahnsinnig, mit welcher Kreativität man als Betroffener vorgeht, um sich am vermeintlich Guten festhalten und das Schlimme ausblenden zu können. Obwohl die Belastung dieser unheimlich komplexen Gefühlslage – mit Verletzung, Trauer, Ohnmacht, Verzweiflung und Wut – die ganze Zeit ununterbrochen da ist. Für mich besteht der einzige Ausweg darin, dass ich lerne, all diese Gefühle in mir, auch das Negative, auch die Wut und die Aggressivität, wahrzuhaben. Ich muss sie anerkennen und versuchen, mit ihnen ins Reine zu kommen. Radikale Akzeptanz. Nur so kann ich langsam wieder ein Leben in Verbindung mit mir selbst leben.» Stefan Rusconi ist sicher nicht der einzige, der diese riesige Aufgabe zu meistern hat. Mit seinem Beispiel, mit seiner Musik, zeigt er, dass dies trotz aller Schwierigkeiten und wenn auch nur schrittchenweise möglich sein kann. Christof Thurnherr, Jazz'n'moreDieser Artikel erschien in der Juli/August 2025-Ausgabe des Jazz'n'more.

Stefan Rusconi im Moods